Der erste Oktober 2017 in Cubelles (Barcelona), ein Sonntag, ein wunderschöner Tag, 28 °C, Sonnenschein und das Mittelmeer hatte immer noch 25°C Wassertemperatur. Unser Freund, nennen wir ihn Ramón, hatte uns schon vorgewarnt, wir würden Zeugen von Ereignissen von historischer Tragweite. Das wurden wir schließlich auch.
Vor Fünf Jahren, am ersten Oktober hielten die Katalanen ein Referendum zur Unabhängigkeit ab. Grundlage war das am 6. September im katalanischen Parlament verabschiedete Gesetz über die Souveränität des katalanischen Volkes mit dem Recht demokratisch über seinen weiteren Weg zu entscheiden. Die Opposition blieb der Debatte und der Abstimmung fern. Der Regierung unter Carles Puigdemont wurde der Auftrag zur Vorbereitung und Durchführung des Referendums erteilt.
Üblicherweise haben sie in Schulen und Kitas die Wahllokale eingerichtet. Die Wahlurnen wurden in China hergestellt und zunächst im Norden Kataloniens vor dem Zugriff des spanischen Staates verborgen. Die Madrider Zentralregierung verbot umgehenst das Referendum und tat das was sie immer tun wenn gesellschaftlicher Gegenwind entsteht, sie antworteten mit Gewalt:
Carrer Marne 2, Barcelona, Agora Schule, von 10.45 bis 11.15, Einsatz der Spanischen Nationalpolizei, mehrere Menschen mit Kopfverletzungen.
CAP Guinardó / El Mercado del Guinardó – Calle de Teodor Llorente, 50 Schläger der Spanischen Nationalpolizei greifen die vor Ort befindlichen Menschen an.
Es gibt mehrere Verletzte. Die Verletzungen sind Rippenbrüche, Kopfverletzungen und Kieferbrüche. Das älteste Opfer, 82 Jahre.
Instituto Pau Clarís – Passeig de Lluís Companys, 18, 12.°° Uhr, 30 Polizisten der National Polizei überfallen das Wahllokal und die Wähler mit besonderer Brutalität. Bereits am Boden liegende und Verwundete wurden noch weiter mit Schlagstöcken und Fußtritten misshandelt. Insbesondere Frauen haben sie an ihren Haaren vom Schulhof auf die Straße gezogen. Darunter eine hoch Schwangere.
An diesem Tage berichtet das öffentlich rechtliche spanische Fernsehen, La 1, nur spärlich und darüber, die Polizei hätte lediglich den Auftrag die Wahlurnen zu beschlagnahmen. Tatsächlich droschen sie –anders kann man das einfach nicht nennen- auf friedliche Wähler ein. Der private TV Kanal „La Sexta“ (Bertelsmann) übertrug alle Bilder live.
Allein in Barcelona umfasst die Liste 41 solcher Objekte. Ich war Augenzeuge in Cubelles und Tarragona. Bilanz dieses Tages; 1 209 Verletzte. 844 Menschen mussten mit teilweise schweren Verletzungen in Krankenhäusern behandelt werden. Mit besonderer Brutalität ging die Nationalpolizei und die Guardia Civil in den Provinzen Barcelona, Girona und Tarragona vor. In Barcelona allein wurden rund 360 Menschen medizinisch versorgt und in Girona waren es 249.
Im Vorfeld steuerte die Madrider Zentralregierung Attacken gegen katalanische Webseiten und offizielle Internetauftritte der Generalidad in Barcelona. Sie blockierten das Netzwerk des katalanischen Gesundheitsministeriums und verhinderte somit die Erstellung von Wählerlisten. Das wiederum führte dazu dass sich eben vor den Wahllokalen lange Schlangen bildeten. Die Katalanen warteten bis zu 2 Stunden in Vierrerreihen.
Aufgrund des Fehlens der Wählerlisten waren die Wahlhelfer gezwungen umständlich über Handy mit anderen Wahllokalen zu kommunizieren um die Personalien der Wähler abzuklären. Die Cyberattacken der Zentralregierung wurden über England, Frankreich und Madrid gesteuert. Am 20. September nahmen die Repressalien der Zentralregierung massiv zu. Auf der Suche nach Stimmzetteln stürmte die Guardia Civil Druckerrein und Redaktionen. Man klagte über 700 Bürgermeister wegen „Kollaboration“ an.
Die Katalanen antworten in dem sie sich organisierten und teilweise Millionen von Demonstranten auf die Straßen Barcelonas brachten. Beim Eintreffen der Polizei hoben alle Demonstranten die Hände und so war es schwierig den Demonstranten Provokationen zu unterstellen. Sie haben weder Stimmzettel noch die Wahlurnen gefunden. Der Frust auf Seiten der Polizei und der Guardia Civil war entsprechend. An diesem ersten Oktober waren insgesamt Zwölftausend Polzisten gegen friedliche Wähler im Einsatz.
Im Laufe des Tages traten Spannungen innerhalb der katalanischen Länderpolizei, der Mossos d’Esquadra, auf. Es bildete sich die Meinung heraus, dass die Polizei nicht dazu da sei politische Konflikte zu lösen und auch nicht länger tatenlos zusehen könne wie Katalanen misshandelt und verletzt würden. „Wir stehen im Dienst der Bürger“ so der Kommandant Josep Lluís Trapero. Und so gingen sie dazu über die Wähler vor gewaltsamen Übergriffen der spanischen Polizei zu schützen.
Es gab Situationen in dem sich Polizisten der Mossos und der spanischen Nationalpolizei gegenüberstanden. Katalonien stand am Rande eines Bürgerkrieges. Doch auf beiden Seiten siegte schließlich die Vernunft. Die Einsatzfahrzeuge der Mossos blockierten die Zufahrten zu den Wahllokalen und verhinderten zunehmend erfolgreich das Eingreifen der spanischen Bereitschaftspolizei und der Guardia Civil.
Im Oktober 2017 lebten in Katalonien 7,5 Millionen Menschen. Davon waren 5,3 Millionen Bürger wahlberechtigt. Am Referendum beteiligten sich rund 2,3 Millionen Bürger was einer Wahlbeteiligung von 43 % entsprach. Für die Unabhängigkeit stimmten exakt 2.044.038 Bürger was 90,18% entspricht.
Am Abend des ersten Oktober sah sich der spanische König, veranlasst vor die Kameras zu treten und nach dem üblichen Muster den Einsatz der Polizei zu verteidigen. Gewalt sei nur von „Extremisten“ ausgegangen und die Polizei war ausschließlich für die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Gesetzmäßigkeit im Einsatz, ihr Auftreten sei angemessen gewesen. Das brachte in Katalonien das Maß zum Überlaufen. Am dritten Oktober kam es zum Generalstreik.
Nach dem Referendumsgesetz vom 6. September hätte unmittelbar die Unabhängigkeitserklärung folgen müssen doch am 10. Oktober hatte der Premierminister Carles Puidgemont die vorläufige Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung verfügt. Carles Puigdemont versuchte unablässig mit Madrid zu verhandeln doch die Katalanen forderten die Ausrufung der Republik, teilweise auch auf der Straße. Diese Tage waren eine Zerreißprobe für das Kabinett von Carles Puigdemont.
Doch in Madrid dachte man gar nicht daran zu verhandeln. Schließlich, am 27. Oktober 2017, nach langer Debatte im Parlament, wurde die Republik Katalonien ausgerufen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatte, vor allem der Abgeordneten der CUP. Sie sprach davon, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen drastisch verschlechtern würden und dem gegenüber steht ein Korruptes System der spanischen Regierung und der Brüsseler Behörden.
Es gibt keine Möglichkeit mehr auf legalem Wege dieser ausufernden Korruption Herr zu werden und darum ist es an der Zeit sich davon zu verbschieden. Die Abgeordnete musste ins Exil und lebt heute in der Schweiz. Nach der Ausrufung der Republik wurde die katalanische Regierung abgesetzt, die Autonomie aufgehoben und direkt durch Madrid verwaltet sowie Zwangswahlen für den Dezember 2017 angesetzt.
Bei diesen Wahlen gewannen aber wieder die Parteien die für die Unabhängigkeit eintreten. Mit einsetzen der Repressalien mussten zahlreiche Politiker, darunter Carles Puigdemont ins Exil fliehen. Andere wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteil, jedoch vor kurzem begnadigt. Die Vorwürfe „Ungehorsam“. Absurd und typisch für eine Autokratie. Die amnestierten katalanischen Politiker dürfen sich jedoch nun nicht mehr politisch betätigen. Besonders bewegend das Schicksal Oriol Junqueras.
Schon am zweiten Oktober erklärte die EU Kommission das katalanische Referendum für illegal. Die ausufernde Gewalt gegen friedliche Wähler taten sie mit Verweis auf eine innerspanische Angelegenheit ab. Nun, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen ist eben für Einige Nationen etwas gleicher als für andere. Mit dieser Erklärung hatte die EU Kommission klar ihre Kompetenzen überschritten und das Völkerrecht gebrochen.
Am siebten Dezember 2017 reisten 45.000 Katalanen nach Brüssel um dort gegen die Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechtes zu protestieren. Spanien versuchte die Ausreisen aus Katalonien zu erschweren. Sie hatten kein Glück. „Sie haben Angst vor Wahlurnen, sie fürchten die Demokratie“ waren die Worte eines Redners in Brüssel.
Von den unrühmlichen Aktivitäten des spanischen Geheimdienstes und deren Kollaboration mit den deutschen Behörden gegen Carles Puigdemont gar nicht zureden. Eine Schande. Die Repressalien der Madrider Zentralregierung wurden immer obskurer. So sind, bis heute, gelbe Schleifen verboten weil sie Zeichen und Ausdruck der Solidarität der Katalanen mit den politischen Gefangenen ausdrücken. Bekannt? Hier und heute und auch schon wieder allerdings andere Symbole und Flaggen. So sieht halt das Recht auf freie Meinungsäußerung aus.
Die spanische Kommunistische Partei hielt sich aus den Unabhängigkeitsbestrebungen heraus. Sie beobachteten nur das Mobilisierungspotential. Die katalanischen Kommunisten unterstützten dies. Immerhin waren sie im Parlament vertreten. Als Marxist und Leninist denke ich an das Leninsche Dekret über den Frieden von 1917 in dem genau dieses, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen, genannt ist.
Aus den Erfahrungen und Lehren zweier von Deutschland ausgegangener Weltkriege ist dies nun Bestandteil des Völkerrechts. Es ist egal für welchen Weg sich die Nationen entscheiden und es ist unerheblich in welcher Form sich dann der neue Staat konstituiert. Es ist das Recht eines jeden Volkes über seine Geschicke selbst und unabhängig zu entscheiden. Niemand hat das Recht eine Nation mit Gewalt in seinen Grenzen festzuhalten.
Darum ist aus meiner Sicht die Sache der Katalanen zu unterstützen. Und, genauso muss man das über das Selbstbestimmungsrecht der Krim, Lugansk und Donezk sehen.
Dem Kommandanten der Mossos d’Esquadra Josep Lluís Trapero war klar, seine Entscheidung würde Konsequenzen nach sich ziehen. Und so kam es ja dann auch. Respekt gegenüber allen die bereit waren für das Selbstbestimmungsrecht der Katalanen schlimme Repressalien in Kauf zu nehmen.
Jeder Polizist der seine Hand gegen demonstrierende Menschen erhebt vergeht sich am Volke. Das sollte jedem klar sein. Die Paar Silberlinge rechtfertigen nicht einen Hieb mit dem Schlagstock, nicht einen Fausthieb und erst recht nicht Schüsse oder den Einsatz chemischer Kampfstoffe.
Der spanische Staat setzt seit dem auf die nationalistische Karte. Allem voran die PP, VOX und Cuidadamos. Sie starten Gesetzesinitiativen zum Verbot der katalanischen Sprache. Kommt das irgendwie bekannt vor?
Nun, sie haben es bisher nicht geschafft. Das wunderschöne Kinderlied „ En Patufet „ darf auch noch weiterhin unbeschwert gesungen werden.
Rainer Hesse
Volkskorrespondent
Meinen herzlichen Dank für die Hilfe bei diesem Artikel, der Spanischen Kommunistischen Partei in Terrassa, der CUP Terrassa und einem guten Freund den ich „Ramón“ nannte, es ist natürlich nicht sein richtiger Name, wir müssen ihn vor Repressalien schützen die leider noch immer andauern.