Der Genozid von Leningrad

Am 29. Juli 1941 fand eine Besprechung beim Oberbefehlshaber der Sowjetischen Streitkräfte Josef Wissarionowitsch Stalin in Moskau statt. In deren Ergebnis wurde festgelegt, dass Armeegeneral Georgi Konstantinowitsch Schukow sich unverzüglich nach Leningrad zu begeben hat. Nach Anlauf der Operation „Barbarossa“ durch die faschistische deutsche Wehrmacht und deren Satelliten war für die Sowjetunion eine gefährliche Lage entstanden. Zwar konnte die vom Oberkommando der Wehrmacht (OKW) vorgegebene Vormarschgeschwindigkeit und der Okkupation sowjetischen Territoriums nicht gehalten werden, dennoch befand sich die Sowjetunion in einer tödlichen Gefahr.

Generaloberst Franz Halder vom Generalstab der Wehrmacht klagte, der Blitzkriegseffekt sei verpufft. Die sowjetische Seite fuhr mit der Verlegung wichtiger Betriebe gen Osten fort. Am 9. September traf also Schukow, M.S. Chosin und I.I. Fejuninski in Leningrad via Flugzeug, das obendrein auch noch deutschen Jägern entkommen musste, ein. Nach der Landung begab man sich sofort in den Smolny. Beim Eintreffen Schukows tagte gerade der Kriegsrat. Es wurden Maßnahmen im Zusammenhang der drohenden Einnahme Leningrads besprochen.

Die in Rede stehenden Maßnahmen des Kriegsrates der Leningrader Front bedeuteten eine Aufgabe der Stadt. Unter anderem waren Mitglieder des Kriegsrates K.J. Woroschilow, A.A. Shadanow und A.A. Kusnezow. Die Aufgabe Leningrads, früher Petersburg und Hauptstadt Rußlands, die Wiege der Oktoberrevolution, kam aus moralischer Sicht nicht in Betracht und aus Militärischer erst recht nicht. An der karelischen Landenge, der alten russischen Staatsgrenze, standen bereits finnische Truppen bereit um nur, nach dem Fall Leningrads, ebenso in die Sowjetunion einzufallen. Das hätte fatale Auswirkungen für die sowjetische Verteidigung des nördlichen Raumes gehabt.

Am 10. September 1941 übernahm also Schukow den Oberbefehl der Leningrader Front. In diesem Raum operierte die Heeresgruppe Nord und mit dem Fall Schlüsselburgs war die Einkesselung Leningrads erfolgt. Die einzigen verbliebenen Zugänge waren über Luft und dem Ladogasee. Eine Landverbindung gab es nicht mehr. Unter dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, von Leeb, wurde Leningrad ununterbrochen mit Artillerie beschossen und aus der Luft angegriffen. Die Stadt und deren zivile Infrastruktur sollten zerstört werden. Zwischenzeitlich hatte man Schukow andere Aufgaben zugewiesen.

Nach erfolgreichem Abschluss der Gegenoffensive der Roten Armee bei Stalingrad im Januar 1943 entsandte das staatliche Verteidigungskomitee Armeegeneral Schukow erneut nach Leningrad und stellte ihm die Aufgabe gemeinsam mit Woroschilow, den Durchbruch der Leningrader Front im Raum des Ladogasee zu koordinieren. Am 12. Januar begann die Offensive der Leningrader- und der Wolchowfront gegen die tiefgestaffelten Verteidigungslinien der faschistischen Okkupanten. Ebenso griffen die Seefliegerkräfte der Baltischen Rotbannerflotte den Feind unermüdlich an.

Mit dem Fall Sinjawino – Schlüsselburg am 18. Januar war der Belagerungsring von Leningrad gesprengt. Eine Landverbindung war endlich hergestellt. Die Lage der Eingeschlossenen verbesserte sich dadurch zusehends. Auch wenn erst im Winter 1943/1944 der übrige Leningrader Raum von den restlichen faschistischen Gruppierungen gesäubert wurde, ergab sich selbstverständlich die Wiederaufnahme der Versorgung der Leningrader Bevölkerung. Vor der Belagerung wohnten in Leningrad 2,5 Millionen Menschen. Nach der Einkesselung Leningrads lief die Versorgung und Evakuierung über eine Luftbrücke und über den Ladogasee an.

Ständiger Artilleriebeschuss und Luftangriffe erschwerten diese Maßnahmen. Als der Ladogasee dann komplett zugefroren war überquerten ihn LKW. die Fahrer waren unermüdlich im Einsatz, 18 Stunden war die Regel. Haben die Deutschen einen LKW getroffen fuhren die Anderen weiter. Auf diesem Wege kamen an die Hunderttausend Zivilisten, meist Familien, Kinder, Kranke und Invaliden, aus dem Kessel frei. Heute, westliche Journalisten, finden natürlich „Zeitzeugen“ die sich aus ihren Kindertagen, im Alter von 4 oder 5 Jahren damals, noch sehr genau an schlimmste behördliche Repressalien im Leningrader Kessel erinnern. Na ja, wenn der Preis stimmt.

Die Menschen hungerten, sie starben am Arbeitsplatz, fielen einfach beim Laufen um. Das staatliche Ermittlungskomitee wies nach, dass insgesamt 641 803 Menschen in Leningrad verhungerten. Die durch Beschuss Gestorbenen nicht mit eingerechnet. Insgesamt sprechen wir von weit mehr als einer Millionen Menschenleben. Nach der Führerweisung Nr. 33 vom 19. Juli 1941 und deren Ergänzung vom 23. Juli 1941 sollte die Bevölkerung Moskaus und Leningrads ausgehungert werden. Man könne in den Wintermonaten nicht so viele Menschen ernähren, war die Begründung. Hier kann man von einem Genozid sprechen.

Jedenfalls, nach der erfolgreichen Entfaltung der Offensivmaßnahmen am 12. Januar mit der Vereinigung der Leningrader- und Wolchower Front am 18. Januar 1943 an der Arbeitersiedlung Nr. 1 und 5 endete die Leningrader Blockade nach 900 Tagen. Noch am selben Tag wurde Georgi Konstantinowitsch Schukow in den Rang eines Marschalls der Sowjetunion erhoben.

Rainer Hesse

Volkskorrespondent

Literaturhinweise:

Dr. sc. Gerhart Hass, Zeitschrift Horizont Nr. 3, 1974 Seite 28

Marschall der Sowjetunion G.K. Schukow, Erinnerungen und Gedanken, Deutscher Militärverlag Russisch: Георгий Константинович Жуков